Käpplerin un Kalkmännel -  Das Theaterprojekt zum Dorfjubiläum 750 Jahre Jockgrim (2015)

Stimmen der Spieler - Station 2

Die Spielerinnen und Spieler der Station 2 haben ihre Theatererfahrungen als Märchen verfasst. Da wir den egsamten Text nicht in der Dokumentation unterbringen konnten steht hier die vollständige Version.

Zeit für ein Theater-Märchen

Es war einmal vor einiger Zeit, da feierte man in einem schönen Ort einen Geburtstag. Der Ort hieß Jockgrim und war schon sehr, sehr alt; schon 750 Jahre. Und all das, was es dort einmal gegeben hat, das gibt es heute leider so nicht mehr. Kein Schloss, keine Zugbrücken, keine Schlossbrücke und keine Ziegelei. Aber es gibt immer noch eine alte Stadtmauer und viele, viele Erinnerungen.

Nun, zu diesem Geburtstagsfest hatte man sich entschlossen, etwas ganz Besonderes auf die Beine zu stellen. Man wollte die Geschichte des Dorfes auf die Bühne bringen, genauer gesagt auf 7 Bühnen. Diese verteilte man in verschiedenen naheliegenden Gebäuden und Räumlichkeiten und ermunterte die Besucher sich auf den Weg zu machen, um nacheinander die Schauplätze zu besuchen. Nun, wir wollen euch jetzt etwas erzählen, über all das, was sich auf und hinter der 2. Bühne abgespielt hat. Also, setzt euch gemütlich in den Sessel, setzt die Brille auf und folgt uns… euren Darstellern.

Irgendwo im Hause der Bürger, tief unten im Keller, befand sich ein Raum. Es war ein ganz besonderer Raum. Eigentlich war er zur Leibesertüchtigung gedacht, aber in dieser schweren Zeit der Raumnot musste man auf diesen zurückgreifen. Er war dunkel und eng. Tiefhängende Spinnweben und sich um die Beine schwingende Wollmäuse versperrten den Weg zu diesem Verlies. 17 fleißige Männer und Frauen waren aschenputtelmäßig  damit beschäftigt zu wischen, zu kehren und bunte Leinenstücke auf die Tische zu legen. Sie wollten sich die Zeit, die sie dort absitzen mussten, erträglicher machen. Das einzige Schmuckstück war ein großer, nichtumrandeter Spiegel an der kahlen weißen Wand. Und wenn dort das ein oder andere Wesen hineinschaute und gebannt, gespannt und hoffnungsvoll wartete, so erschien jedoch nie eine Gestalt, die sagte: „Du bist die/der Schönste im ganzen Land“. Also saßen sie da und warteten und warten und warten.

Und schon damals war es so, dass das enge Zusammensein von Menschen zu einem oftmals ungewollten Austausch von Worten führte. Es fielen Begriffe, von deren Existenz viele der Anwesenden bis zu diesem Zeitpunkt gar nichts gewusst hatten. Man sprach von einer Wundermaschine und es schien als ob diese sogar die fleißige Frau am Ofen vertreiben würde. Sogar ein Mann mit lichtem Haar hatte mit dieser magischen Erfindung bereits Erfahrungen gemacht. Er nannte sie liebevoll Thermomix. Viele der Gegenwärtigen schienen sich mit den Ergebnissen dieser Anlage schon vertraut gemacht zu haben, denn sie klagten über körperliche  Beschwerden. Immer wieder war man versucht nach dem tapferen Schneiderlein zu verlangen, damit Nähte und Knöpfe nicht Opfer des Unwohlseins wurden. Und man war dankbar, wenn sich eine liebevolle Hand dem  verspannten Körperteil annahm und durch knetende und kreisende Bewegungen zur einzigen Wohltat in dieser trostlosen Situation beitrug.

Alle drei Stunden wurden sie vorgeführt. Dann hieß es die Zöpfe zu richten, die Schürzen zu knoten, den Blindenstock fest zu umgreifen und die Kinder an die Hand zu nehmen. Gemäßigten Schrittes ging es dann hoch, hoch hinauf ins Ungewisse …

Dort verharrten sie dann, auf diesen Brettern, die für viele die Welt bedeuteten. Umgeben von erdrückenden Wänden und tiefhängenden Decken standen und saßen sie dicht beisammen in dieser Stube. Die Einrichtung war düster, ärmlich, spärlich und wie früher üblich, spielte sich das ganze Familienleben in diesem Raum ab. Die Wände waren geschmückt mit mystischen Symbolen. So befand sich das Bild eines gewissen Ludowicis auf Augenhöhe mit einem entkleideten, die Arme ausstreckenden Mannes, der an einem mit einer Querlatte ergänzten Marterpfahl festgemacht war. 

In dieser Umgebung stellte man dann, zur Unterhaltung der unten bereits wartenden Bürger, die Geschichte der Familie Bauer nach: Um einen alten Holztisch saßen die Bauers. Während zu Beginn nur die Tochter Minna mit ihrer Freundin Helene in der guten Stube verweilte, um sich mit ihr über die noch nicht kundgegebene, ungewollte Schwangerschaft zu unterhalten, gesellten sich nach und nach die alte Tante und auch die Mutter Elisabeth mit ihrer ältesten Tochter Maria ein.  Nacheinander erschienen dann die Brüder Franz, der blinde Max und der Vater Georg auf der Bildfläche. Ein reges Treiben herrschte in der Küche der Familie, zumal die Kinder Lina, Fritz, Franzel und Gretel lautstark hereinpolterten. Alle beschäftigten sich dem Ausbessern von Kleidung, mit dem Unterhalten der Kinder oder mit dem Inhalt eines offensichtlich wichtigen Schriftstücks, denn es führte bei allen zu heftigen Erregungen. Dazwischen beschäftigten sich die Geschwister Fritz und Lina schon mal mit dem Gedanken Brotkrümel zu sammeln, für den Fall, dass ihre Familie ohne Acker nicht mehr genug zum Leben hat. So saß man beisammen und kam den alltäglichen Arbeiten und Gesprächen nach. Man schimpfte über die politische Situation, beschwerte sich über arbeitsscheues Gesindel und beklagte die persönliche Lage. Wie früher üblich, sorgte die stets offene Tür dafür, dass jederzeit mit Besuch gerechnet werden musste. Ob es nun eine Frau Lehrer, der rote Berdel oder die liebe Freundin aus der Nachbarschaft war, die, zur Überraschung der Familie, gleich eine schöne „Kinnerschees“ mitbrachte, jeder Besuch war mit einer Neuigkeit verbunden. Tja, und auch wenn die finanzielle Situation der Familie langsam brenzlig wurde, blieb für Gefühle und schmachtende Blicke zwischen Barbara und Franz dennoch Zeit.  Am Ende der Szene fielen die Darsteller dann in eine starre Haltung.

Und kaum fiel der Vorhang und die armen Menschen warteten geduldig auf das Urteil des anwesenden Volkes, Daumen hoch oder Kopf ab, schritt man wieder zurück, entledigte sich seines Gewandes und wartete geduldig auf die Belehrungen und Anweisungen der Spielleiter. Hatte der rote Berdel sein rotes Käppchen richtig aufgesetzt? Kam überzeugend rüber, dass niemand weiß, dass der unbekannte Vater vielleicht doch nicht Rumpelstilzchen heißt? Wieso erweckt die Textstelle „Vielleicht wäs se’s jo nit“ ein Lachen und keine Betroffenheit? Haben die Darsteller irgendwo Fehler gemacht? Denn, wenn das so sei, wurde ihnen angedroht, das der üppig gedeckte Tisch ruck zuck weg wäre. Aber dank der vielen guten Feen hatten die armen Leute immer ein schön gedecktes Tischlein und nur selten gab es die drohenden Worte „S gibt glei uffd lafet!“ zu hören.

Und dann saßen sie wieder beisammen, die Kellerkinder, von denen viele schon einmal auf diesen bekannten Bühnenbrettern gestanden haben. Aber auch einige, die sich noch nie vor eine Bürgermenge hatten hinstellen müssen, denen noch nie das grelle Licht einer neuartigen Wärme- und Lichtmaschine auf ihr Haupt schien. Und sie blickten sich an, die Dicken und die Dünnen, die, die schon immer in der Gemarkung angesiedelt waren und die anderen, die von irgendwo ihres Weges kamen und sich für kurze Zeit hier niedergelassen haben. Sie saßen beisammen auf der kalten, harten Holzbank und drückten sich warm. Personen, deren Gedankengut einfach gestrickt war, neben Menschen deren Intelligenz sehr hoch war – einer kannte sogar die magischen Bäume, die vor dem Haus der Bürger wuchsen. Einzelne trugen ihr Haupt so würdevoll, dass man sie durchaus von dem einfachen Volkspöbel in einen herrschaftlichen Rang hätte emporheben können. Es gab Wortgewandte und Dummbabbler, kleine noch unwissende Wichtel und alte weise Frauen. In diesen Katakomben waren alle  Erdenbürger zusammengewürfelt und trotz der tragischen Situation, in der sie sich befanden, waren sie glücklich, fröhlich und hatten ihren Spaß.

Ab und zu war es dann auch soweit und die Kinderassistenz, sozusagen das Schneewittchen, packte ihre Zwerge und führte sie hoch in den Turm. Dort mussten die kleinen Wesen manchmal sogar stundenlang ausharren. Nur sehr selten erfuhren die Menschen im verlassenen Keller, was sich dort Tragisches abspielte. Und ab und zu, wenn sie zurückkamen, sahen die ein oder anderen aus wie „neu geföhnt“. Und manchmal erzeugte ihr Wiederkommen einen Schauer bei den Erwachsenen, denn wenn sie eintraten, konnte man noch die Spuren der Behandlung auf ihren zarten Gesichtern feststellen. Bräunliche und andersfarbige, mittlerweile schon festgetrocknete Spuren um ihren Mund, ließen darauf schließen, dass man den Kindern etwas eingeflößt hatte. Aber nur sehr selten kam ein Gejammer oder Gewimmer, im Gegenteil.

Eines schönen Tages kam eine schwarzhaarige schöngewandete Frau in das Verließ. Sie blickte die ärmliche Gesellschaft nacheinander an und zog dann hinter ihrem Rücken einen Stein hervor. Weil ihr so brav wart, sagt sie, habt ihr jetzt drei Wünsche frei. Sofort kamen die ersten Vorschläge, was man sich doch von Herzen wünschen will. „Ich will nie wieder zu einer Einzelprobe müssen!“ wünschte sich eine junge Frau. „Und ich will endlich erklärt bekommen, was „Alt-Französisch“ ist, sagte das 9-jährige Bübchen schüchtern. „Und ich will endlich sehen können, damit ich meinen Blindenstock im Fallen auffangen kann“ wünschte sich der Blinde. „Tja, und ich wünsche mir, dass keiner von euch krank wird“, sagte die Schwarzhaarige. Aber, da waren die Wünsche schon alle vergeben.
Aber der Tag der allgemeinen Befreiung nahte. Jeder hoffte dem großen Ofen, der sich in einem Ring befand, zu entkommen. Es wollte auch keiner zu den „Altlasten do unne“ gehören. Vielmehr hoffte man, das am Ende alle sagten: „Ja, die Kellermenschen aus der Station 2 sind definitiv die „bleibenden Künstler do owwe“.

Und wie sagt man so schön: Wenn sie nicht gestorben sind, dann spielen sie noch heute!

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